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Das unten nachfolgende Interview mit dem Titel „Wie der Blick durch das Mikroskop eines Labors“ wurde von zwei Studierenden des Projekts, Andrea Dassing und Étienne Légat, durchgeführt.

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Dieses Interview mit den Beteiligten der Live Graphic Novel Ultima Ratio - Ein Kirchenasyl-Fall in Neukölln am Heimathafen Neukölln erscheint in Kürze außerdem in dem von Maria Lieber, Christoph O. Mayer und Rebecca Schreiber hg. Band: 

 

"Kulturwissenschaftliche Impulse in Theorie und Praxis: Integration – Evolution? Revolution? "

(Frankfurt a.M.. Lang 2017).

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zum Stück:

Aliyah ist durch die Sahara gelaufen. 
Aliyah weiß, wie es sich anfühlt, als Nichtschwimmerin das Mittelmeer zu überqueren.
Aliyah hat, im Gegensatz zu so vielen anderen, das rettende Europa erreicht. 
Doch in Deutschland wartet sie mit ihrem Mann schon seit über zwei Jahren darauf, einen Asylantrag stellen zu dürfen und lebt in ständiger Angst vor der Abschiebung. 


"Wir beklagen in Europa die Toten und tun doch nichts für die, die überleben!"
 

Anhand von Originaldokumenten rollt Ultima Ratio stellvertretend für die ungezählten Flüchtlingsschicksale einen somalischen Fall auf und nähert sich mit poetischen Live-Zeichnungen dem Unsagbaren: dem Leid der Flüchtenden und der hoffnungslosen Überforderung der Behörden. 

Die Gemeinde St. Christophorus in Neukölln stellt sich mit dem Kirchenasyl gegen die Anordnung der Behörden, gegen die pauschale Abfertigung von Flüchtlingsschicksalen, gegen die Missstände der europäischen Asylpolitik und kämpft dafür, dass die Geschichte von Aliyah angehört wird. 

 

© Heimathafen Neukölln 2016

Trailer:

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Interview mit Beteiligten der Live Graphic Novel

Ultima Ratio - Ein Kirchenasyl-Fall in Neukölln

am Heimathafen Neukölln

Interview

"Wie der Blick durch das Mikroskop eines Labors"

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Fragen an Lucia Jay von Seldeneck (Idee und Text):

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Wie kam es zu der Idee, einen realen Kirchenasyl-Fall auf die Bühne zu bringen?

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„Die Gemeinde, in der sich der reale Kirchenasyl-Fall ereignete, befindet sich in unmittelbarer Nähe zu unserem Theater in Berlin-Neukölln. Insgesamt ist das Thema (immer noch) sehr wichtig. Also haben wir nachgefragt, ob wir den Fall begleiten dürfen, um ihn zu dokumentieren. Vor allem auch, um zu verstehen, wie ein Kirchenasyl abläuft. Anschließend habe ich den Fall über 9 Monate begleitet.“

 

Inwiefern war und ist das geflüchtete Ehepaar in den Entstehungs- und Umsetzungsprozess des Stückes involviert?

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„Wir haben sie natürlich befragt, nachgeforscht und viele Gespräche geführt. Rooble hat das Stück vor der Premiere gesehen. Er sagte uns: ‚Es ist gut, dass die Menschen in Deutschland unsere Geschichte erfahren. Das hilft mir weiterzumachen.‛“

 

Hat die Thematisierung des Falles und dessen Aufführung in der Öffentlichkeit die Bearbeitung der Asylanträge der beiden Protagonisten begünstigt oder erschwert?

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„Weder noch. Wir haben den zuständigen Richter eingeladen, aber er ist nicht gekommen. Im vergangenen Jahr hat die Ausländerbehörde den beiden allerdings erneut einen Abschiebebescheid geschickt, obwohl die beiden inzwischen ein Kind haben und daher nicht abgeschoben werden dürfen. Sie konnten dann auch bleiben. Es war für uns aber immer klar, dass wir im Falle einer Abschiebung als Kulturinstitution Öffentlichkeit erzeugen können, was wir auch getan hätten.“

 

Hat der Heimathafen Neukölln, in seiner Funktion als Theaterkollektiv, durch diese Inszenierung einen gewissen Einfluss auf Politik, speziell auf Flüchtlingspolitik, ausüben können?

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„Eher nicht. Aber vielleicht hat es immerhin Aufmerksamkeit für die Flüchtlingsproblematik erzeugt, vor allem auch durch die Vielzahl der Inszenierungen an vielen Bühnen der Stadt zu diesem Thema.“

 

Wie haben die allgemeinen Theaterbesucher und die Öffentlichkeit auf das Stück reagiert?

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„Die Reaktionen waren sehr positiv. Es ist ja generell immer sehr ergreifend, wenn man eine echte Geschichte hört. Wir haben gemerkt, dass es nach den Vorstellungen immer viel Redebedarf unter den Zuschauern gab. Daher haben wir auch oft Publikumsgespräche angeboten. Auch die Rezensionen waren alle äußerst positiv, vor allem die Umsetzung der Geschichte in Form einer Live Graphic Novel wurde lobend erwähnt.“

 

Fragen an Nicole Oder (Regie und Text):

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Woher kam die Idee der graphisch-szenischen Darstellung als Live Graphic Novel? Warum und wie wurde diese besondere Form der Darstellung entwickelt? Gab es künstlerische Vorbilder dafür?

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„Für den realen Stoff haben wir eine Form gesucht, die weg vom dokumentarischen Charakter geht und die eine künstlerische Überhöhung und Verfremdung darstellt. Außerdem wollten wir am Heimathafen Neukölln für unsere kleine Spielstätte mit einer ‚White Box‛ ein neues Format entwickeln, das analog und mit einfachen Mitteln neue, überraschende Ästhetiken eröffnet. So war von Anfang an klar, dass wir mit Livezeichnungen arbeiten und als Projektionsmedium einen Overheadprojektor benutzen wollten. Künstlerische Vorbilder gab es nicht direkt. Die Ästhetik (wir arbeiten nur mit schwarzer Tusche) ist in den Proben entstanden, bei denen wir mit verschiedenen Techniken experimentiert haben.“

 

Wie wichtig war Ihnen dabei die Mischung verschiedener medialer Formen?

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„Wir arbeiten mit Projektion, Schauspiel, einer Art Live-Hörspiel (eine Sprecherin spricht live aus dem Off Original-Texte einer Psychologin, die den Fall betreut hat) und Sound-Design (z.B. Tinitus-Geräuschen). Mit dieser Mischung versuchen wir die emotionale innere Welt der Protagonistin zu erzählen. Das Besondere dabei ist, dass die Protagonistin selbst fast keine Mittel zur Verfügung hat, um sich auszudrücken. Die Hauptdarstellerin, Tanya Erartsin, hat über das ganze Stück hinweg nur sehr wenig Text bei ständiger Bühnenpräsenz. Sie wird also von den Mitteln dominiert und hat nicht die Oberhand. Das schien uns passend und wichtig für die Darstellung eines Asylfalles, bei dem die Betroffenen auch oft jeder Ausdrucksmöglichkeit beraubt werden.“

 

Wie haben die Mitglieder der Kirchengemeinde auf das Stück reagiert?

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„Die Kirchengemeinde hat uns bei der Entwicklung des Stücks unterstützt. Wir haben Interviews mit Mitgliedern geführt und die Gemeinde hat uns Kontakte zu weiteren Beteiligten in dem Asylfall vermittelt. Durch unsere Pressefrau Lucia Jay von Seldeneck, die das Kirchenasyl von Anfang an begleitet hat, war das Verhältnis sehr vertrauensvoll. Viele aus der Kirchengemeinde haben das Stück gesehen, teilweise auch mehrmals, und sehr positiv aufgenommen.“

 

Fragen an Julia von Schacky (Bühne und Dramaturgie):

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Warum haben Sie sich für ein minimalistisch gestaltetes Bühnenbild sowie Kostüm entschieden?

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„Mit der möglichst kontrastierenden Gestaltung der beiden bildnerischen Elemente des Abends (Bühne, Kostüm versus Live Graphic) wollten wir das Spannungsfeld verbildlichen, in der sich die Protagonistin im Stück befindet. Sie ist nackt dem deutschen Asylverfahren ausgesetzt. Sie hat ihre Heimat, Sprache, Freunde, Familie etc. zurücklassen müssen und befindet sich in einem anonymen System, wo sie lediglich eine Verfahrensnummer unter vielen ist. Sowohl im Asylverfahren, als auch in der Psychiatrie, wird sie bürokratisch verhandelt, erfasst und behandelt. Es sind sterile Räume und Systeme, die für alle Asylbewerber und Patienten gleiche Behandlung und Objektivität suggerieren und die menschliche Einzelentscheidung und Absichten, die trotz allem immer dahinterstecken, hinter dem Sichtschutz von weißen Bürolamellen verschwinden lassen wollen.“

 

Wieso haben Sie sich sowohl beim Bühnenbild, als auch bei der Kostümwahl auf die Farbe Weiß beschränkt? Welche Bedeutung hat die Farbgebung im Stück?

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„Die weiße Farbe assoziiert diese Ausgesetztheit, Sterilität und scheinbare Objektivität, wie der Blick durch ein Mikroskop eines Labors oder die scheinbare Unschuld eines weißen Blatt Papiers aus einer Behörde, welches das Schicksal eines Menschen in einem solchen Verfahren besiegelt.“

 

Aus welchem Grund trägt die Protagonistin auf der Bühne einen einfachen Einweg-Overall und ist darunter ansonsten nackt?

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„Die Projektionen der Live Graphic Novel gehen ästhetisch bewusst dagegen. Tusche, Kratzen, Kleckse; es entsteht etwas Zufälliges und Einmaliges, eine individuelle menschliche Handschrift ist zu erkennen, assoziative Bilder konkreter Orte, Menschen, Ereignisse und Gefühle: All dies füllt den sterilen Raum mit den Erinnerungen, Ängsten und Träumen der Protagonistin.“

 

Fragen an Tobias Pehla (Sound- und Lichtdesign):

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Inwiefern stellte die Form der Live Graphic Novel eine besondere Herausforderung für Sie dar?

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„Ich selbst habe während der Entwicklung des Stücks die Live Graphic Novel weniger als Herausforderung, sondern mehr als Chance gesehen. Allein aus lichttechnischer Sicht eröffnet die Arbeit mit dem OH-Projektor eine ganz neue Ebene, die einem sonst verschlossen bleibt. Die Entscheidung einen OH-Projektor einzusetzen und nicht etwa die Livezeichnungen zu filmen und über einen Beamer zu projizieren, hat dazu beigetragen, dass die Zeichnungen viel besser und homogener in den Rest integriert wurden. Zum einen war es spannend, wie man den Projektor nicht nur als Fläche für Grafiken nutzen konnte, sondern auch als lichterzeugendes Mittel. Zum anderen war es interessant, wie man durch die Ansteuerung des Projektors mit dem Lichtpult die Option hatte, Zeichnungen ein- und auszublenden oder simple Effekte auf die Grafiken zu legen.“

 

Haben Sie zuvor bereits mit derart vielen verschiedenen Medien in einer einzigen Inszenierung gearbeitet?

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„Durch den OH-Projektor kam für mich ein vollkommen neues Element hinzu. Die enge Zusammenarbeit mit den Sounddesignern bin ich gewohnt, auch einfache Projektionen über Beamer sind ja mittlerweile schon fast Standard. Auf die Arbeit im Studio des Heimathafens bezogen ist dann auch noch die Ebene des bewegten Lichts dazu gekommen, welches im großen Saal zu meinen alltäglichen Arbeitsmitteln gehört, im eher kleinen Studio jedoch eine Besonderheit darstellte. So hat diese Produktion viel Raum erzeugt, künstlerisch tätig zu werden und mit den an sich sehr wenigen und simplen Elementen viele verschiedene Räume und Situationen zu erschaffen.“

 

Welche Atmosphäre oder Stimmung wollten Sie durch die Sound- und Lichteffekte beim Zuschauer erzielen? Wodurch haben Sie diese erreicht?

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„Das ist, gerade auf dieses Stück bezogen, eine sehr schwierig zu beantwortende Frage, da es sehr viele verschiedene Elemente gab, die zum Einsatz kamen. Ich wähle einfach mal ein paar wichtige davon aus.

Zum einen gibt es da den Gegensatz von Analog zu Digital. Links auf der Bühne die menschliche Zeichnerin, die analog und gefühlvoll auf dem OH-Projektor Bilder und Räume kreiert, von denen jeder einzigartig und nicht hundertprozentig rekonstruierbar ist. Auf der anderen Seite der Bühne dann die mechanische, digitale und gefühlskalte Lampe, die ihre festen und programmierten Wege abgeht und zwar als Bild für die sich gegenüberstehenden Parteien in so einem Asylverfahren. Auf der einen Seite die Geflüchteten, die sich hoffnungsvoll auf den Weg machen um irgendwann in Frieden und Sicherheit leben zu können und auf der anderen Seite das System, das stumpf und mechanisch einen Fall nach dem anderen ‚durchschiebt‛. Zweitens die Visualisierung von ‚Easy‛, der Computerstimme. Sie sollte ein Gesicht bekommen, eine kleine Anlehnung an Knight Rider durch das Blitzen der Lampe zur Stimme auf der einen Seite und dann der fast übermächtige und vor allem übermenschliche große Lichtstrahl, der die Geflüchtete durch den Raum jagt und schiebt – das war die Idee hinter diesem Element.

Außerdem gibt es noch das Bild der ‚Psychiatrie‛. Weiße Wände, klinisch, kalt und im Hintergrund dieser pfeifende drückende Sinuston. Das ist ein gutes Beispiel dafür wie eng Licht und Ton in diesem Raum zusammenspielen. Bedrückende Gefühle, Kälte, Schwierigkeiten, fokussiert zubleiben, die Augen und die Ohren überreizen, es anstrengend zu machen. Zuletzt noch die Idee zur Projektion. Die Geflüchtete liest ein Kinderbuch. Dabei wird sie immer wieder unterbrochen von Einblendungen über den Beamer. Wir haben originale Dokumente geschwärzt und gescannt. Die Idee dabei ist wie sie sich versucht auf das Buch zu konzentrieren, in dem Fall symbolisch, aber die gesamte Situation um sie herum sie nicht loslässt. Sie versucht es zu ignorieren, aber die Projektionen hämmern immer schneller und intensiver auf sie ein.“

 

In welchem Zusammenhang stehen die von Ihnen gewählten Sound- und Lichteffekte mit dem Themenbereich „Migration“?

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„Ich würde sagen, dass die gewählten Mittel keinen direkten Bezug zu dem Themenbereich ‚Migration‛ haben. Es ist nicht so, dass man im Vorfeld zusammensitzt und sich überlegt, welche Scheinwerfer oder Lichteffekte gut zu dem Oberthema passen. Dafür ist das, was wir auf technischkünstlerischer Ebene zu erzeugen versuchen, zu stark mit dem konkreten Inhalt des Stücks verwoben.“

 

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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Das komplette Interview gibt es als              zum Download!

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© Heimathafen Neukölln 2016
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